„Warum studieren Sie Jura?“ Mein Professor in Rechtssoziologie stellte diese Frage beinahe in jeder Vorlesung an die drei Mal. Mindestens. Anfangs stellte er noch Antworten in den Raum wie: „Viele wollen vermutlich irgendwann viel Geld verdienen.“ Oder: „Vielleicht haben Sie auch einen gewissen Gerechtigkeitsanspruch, wollen Gerechtigkeit bewirken.“
„Warum studieren Sie Jura? Was sind Ihre Motive? Das Studium wird Sie auf eine bestimmte Weise sozialisieren. Wie, ja das lohnt sich zu fragen. Warum studieren Sie Jura, warum sitzen Sie jetzt hier in dieser Vorlesung, warum hören Sie mir zu?“
Immer und immer wieder und am häufigsten mit der Tendenz „Klausur, Staatsexamen, Anwaltskarriere und reich werden“ beantwortet. Diese Tendenz nervte mich. Nervte mich gewaltig, weil ich ein anderes Bild von mir selbst habe, weil ich das Jurist*innen-Klischee von wegen „Hauptsache viel Geld aus den Konflikten anderer ziehen“, verabscheue. Ich studiere Jura nicht für eine Anwaltskarriere und einen dicken Geldbeutel. Ich habe noch immer den idealistischen Anspruch, meine persönlichen Interessen, meine ewigen Warum-Fragen, mit einem sinnvollen Zweck zu einem Beruf verbinden zu können, der den Menschen eine Stimme, eine Chance gibt, die keine haben. Also warum studiere ich Jura?
In der Ersti-Woche war meine Antwort ein vorsichtiges – denn wer weiß schon auf welche Menschen ich treffe und es sich schon am zweiten Tag zu verscherzen, ist nun wirklich nicht meine Art – „Ich will journalistisch und/oder politisch arbeiten und studiere deshalb erst mal etwas, das mich einfach nur inhaltlich interessiert,“ gepaart mit einem: „Mich fasziniert, wie im Grunde nur Worte und deren Interpretation unsere Gesellschaft zusammenhalten,“ wenn ich die Person gegenüber sympathisch fand. Ich studiere Jura, weil ich es als eine Möglichkeit in unserem (dringend reformbedürftigen) Bildungssystem gefunden habe, um gleichzeitig Germanistik, Rhetorik, Soziologie, Psychologie und etwas praktisch Anwendbares zu studieren. Ich studiere Jura, weil ich in jeder Faser meines Körpers ein kleines Kribbeln spüre, wenn ich einen spannenden Fall vor mir liegen habe und ich weiß, dass die nächsten Minuten gefüllt damit sein werden, Probleme zu finden und sie mit Hilfe von chirurgisch genauer Auslegung und seitenlanger Argumentation zu lösen.
Nach einer Vorlesung irgendwann in der zweiten Hälfte des Semesters, fing ich an, etwas länger über einen Textausschnitt von Duncan Kennedy, einem der bekanntesten Vertreter und Mitbegründer der Critical Legal Studies Bewegung in den USA, nachzudenken. Einer seiner Thesen nach, arbeiten Jurist*innen keineswegs frei von Ideologie. Sie wissen diese nur besser hinter der Rhetorik der strukturierten Interpretation zu verbergen. Diese erhält einen gewissen Status Quo, eine gewisse Ideologie einer bestimmten Machtstruktur im Rechtstaat aufrecht, die durch die Intransparenz eben dieser Machtstrukturen nur schwer anfechtbar ist. Jurist*innen glauben an die Ideologie der transparenten Herrschaft. In der modernen Gesellschaft wird die Macht nicht mehr (vorrangig) mit dem Knüppel ausgeübt, sondern mit (für Nicht-Jurist*innen meist sehr undurchsichtigem) Recht. Dieser These folgend, haben letztlich Jurist*innen sogar mehr Macht in der Gesellschaft als Politiker*innen – obwohl sich da ja sehr oft Überschneidungen finden. Letztere schreiben zwar mit der Gesetzgebung die Regeln, die unsere Gesellschaft leiten, jedoch hängt die Interpretation, Auslegung und Anwendung im Wesentlichen an den juristischen Berufen. Selbst in einem Staat, der mit dem Rechtssystem des Civil Laws arbeitet, also Rechtsprechung nicht als offizielle (!) Rechtsquelle zulässt, liegt das Recht schon aus der Natur der Sache heraus in den Händen der Jurist*innen. Mit jedem Gutachten, mit jeder Rechtsprechung, schlicht, mit jeder Rechtsanwendung, wird das System, das unserer Gesellschaft als Stütze und Rahmen dient, ein bisschen gestaltet, ein bisschen mehr aus der Abstraktion in die Realität gebracht. Wie die Gesetze unsere Realität beeinflussen, hängt nicht zuletzt wesentlich von der Ausgestaltung durch die Rechtsanwendung ab.
Warum also studiere ich Jura? Je länger ich über Kennedys These nachdenke, umso mehr frage ich mich, wie sehr nicht auch ich Jura vor allem deshalb studiere, weil ich es genieße, mehr zu wissen als andere. Macht zu haben, weil ich die Regeln der Gesellschaft kenne. Macht zu haben, in diesem Spiel tatsächlich meine Züge geplant und in meinem Interesse spielen zu können. Macht zu haben, die Welt und die Art und Weise unseres Zusammenlebens gestalten oder zumindest beeinflussen zu können. Wenn man mich fragt, welche Personengruppe meiner Meinung nach die meiste Macht in der Gesellschaft hat, dann stehen in meiner Antwort die Jurist*innen über den Politiker*innen, gefolgt von der Frage, ob die Medien nicht mehr Macht als alle zusammen haben.
Die Tatsache, dass mein aktueller Plan, was ich beruflich mit meinem Leben anfangen will, die journalistische Tätigkeit auf Grundlage meines Jurastudiums ist, führt mir eigentlich nur noch offensichtlicher vor Augen, wie grundlegend mein Bedürfnis nach mehr Wissen mein Leben bestimmt. Die wesentliche Frage, die sich hier stellt, ist, ob es mir reicht, mehr zu wissen, als ich vorher wusste oder ob dieses Bedürfnis nach mehr Wissen mit dem Machtanspruch verbunden ist, mehr zu wissen als andere Menschen. Ich bin der Meinung, dass beides annähernd unmöglich voneinander trennbar und situationsbedingt unterschiedlich ausgeglichen ist.
Was aber voneinander trennbar ist, ist der Grund, warum ich Jura studiere und das, wofür ich meine Fähigkeiten und meine Energie in der Gesellschaft nutze. Die Antwort auf Letzteres ist der Grund, warum mich so sehr aufregt, dass immer erst einmal angenommen wird, man würde ein abgeschlossenes Jura-Studium nur nutzen, um viel Geld mit den Problemen anderer zu verdienen (außerdem: ist das nicht sowieso das grundlegende Konzept bei jedem Weg, Geld zu verdienen? Irgendwo existiert ein Mangel, eine Krankheit, ein unbefriedigtes Bedürfnis des sinnlosen Konsums und irgendjemand erklärt sich bereit, Abhilfe zu schaffen, solange man bezahlt?). Denn mein idealistischer Anspruch an mich selbst, diese Welt zum Besseren zu verändern, tatsächlich zu helfen und denjenigen eine Stimme zu geben, die unterdrückt und sonst nie gehört werden würden, hat sich durch das Bewusstwerden über mein eigenes Macht-Bedürfnis nicht verändert. Abzuwarten bleibt, wie stark mich das Studium noch beeinflusst. Sicher ist, dass man auf eine gewisse Weise sozialisiert wird, wenn man sich jahrelang in eine bestimmte Art zu denken einarbeitet und sich mit Menschen umgibt, die sich die gleiche Denkweise und die gleiche Arbeitsmoral angeeignet haben und wahrscheinlich auch sehr ähnliche Interessen haben.
Warum also studieren Sie Jura?
Ich studiere Jura, weil ich Sachlagen gern über-analysiere, es liebe, mehr zu wissen und es genieße, diesen Wissensvorsprung in realen, gesellschaftlichen Situationen nutzen und anwenden zu können.
Ich studiere Jura, weil ich gern die Kontrolle habe.
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