Liebe Lesende,
es wird immer milder, mein Bruder holt morgens die kurzen Hosen aus dem Schrank und spätestens, wenn mir schon früh halb 7 beim Frühstück die Sonne penetrant die Netzhaut wegbrennt, ist klar: Der Sommer naht. Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu und für die Abschlussklassen bringt das nicht nur nervenaufreibende Prüfungen mit sich, sondern auch damit verbundene Rituale. Sehr beliebt bei Schüler*innen jeglicher Schulform ist die Mottowoche und auch ich wurde vor kurzem unfreiwillige Zeugin dieser Tradition. Durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel kam ich vor einigen Wochen in den Genuss, diverse Kostümierungen mitfahrender Jugendlicher beurteilen zu können. Der Wichtigste davon, das muss hier einfach erwähnt werden, mein eigener Bruder (shoutout <3).
Auch wenn ich es als gelungene Abwechslung empfand, morgens mit Bob der Baumeister zur Arbeit zu fahren, bleibt ein Ereignis dieser Woche negativ im Gedächtnis:
Ich musste sehr an mir halten, mich nicht in das Gespräch einer Gruppe jüngerer Mädchen auf den Busplätzen hinter mir einzumischen, die schamlos und in wirklich bösartiger Wortwahl über das Outfit eines Mädchens an der Haltestelle herzogen, an der wir hielten. Ein Gespräch à la: „Boar, guck dir mal die an!“, „So nuttig.“, „Denkt die das sieht gut aus? Ist ja peinlich.“ und einige Wörter, die ich hier nicht wiederholen möchte. Falls ihr euch jetzt schockiert fragt: Was kann sie nur getragen haben? Sie war für das Motto Mafia/Rotlichtviertel in ein schwarzes Minikleid gekleidet, komplementiert mit Pelz und rotem Lippenstift.
Diese Interaktion machte mich wütend und traurig und um zu verstehen wieso, muss ich ein wenig ausholen.
Slutshaming ist out, Frauensolidarität in
Ich schätze unsere Leserschaft als offen und politisch gebildet ein. Wieso solltet ihr uns – queer und feministisch – sonst folgen? Deshalb gehe ich davon aus, dass euch das Slutshaming dieser Situation ebenso negativ auffällt wie mir. Slutshaming (eng. slut = Schlampe, shaming = beschämen), bezeichnet das verbale Angreifen einer Person mit dem Ziel, sie für ihre Kleidung, Verhalten oder sexuelle Präferenzen zu kritisieren, sodass sie sich schämt und/oder schuldig fühlt. Meistens bezieht sich der Begriff auf weiblich gelesene Personen, die für eben genannte Dinge bewusst oder unbewusst herabgesetzt werden.
Wenn die Gruppe jüngerer Mädchen über das kurze Kleid und den auffälligen Lippenstift der Mottowochen-Partizipantin herzieht, tut sie dies allerdings nicht mit dem Ziel sie beschämen zu wollen (dem Fensterglas sei dank blieb ihr diese Interaktion erspart). Vielmehr trägt das Missbilligen Anderer dazu bei das eigene Ego zu polieren und sich in unserer Gruppe bestätigt zu fühlen. Ganz nach dem Gedanken „Seht euch nur dieses Mädchen an! Wir würden uns nie so unangemessen kleiden. Schön, das wir bessere Menschen sind.“ Offensichtlich ist das großer Quatsch, aber jeder von uns war schon einmal in einer Situation, in der wir andere für etwas Triviales negativ bewertet haben, um unser Verhalten positiv herauszustellen. Auch ich kann mich davon leider nicht freisprechen.
Schwierig finde ich nur, dass Mädchen und Frauen tendenziell schneller kritisiert werden, vor allem im Hinblick auf „sexuelles“ Verhalten bzw. das, was als solches von Außenstehenden identifiziert wird. Natürlich hat ein schwarzes Minikleid mehr Sexappeal als ein beiger Rolli (Dark Academia in allen Ehren), aber es gibt keinerlei Auskunft über das Sexualleben der darin enthaltenen Person. Ein kurzer Rock bedeutet nicht automatisch, dass jemand „leicht zu haben“ ist. Ein roter Lippenstift sagt nicht „Diese Lippen sind für dich und deine Fantasien gedacht“. Kleidung ist nur das, was es ist: Kleidung. Ein Stück Stoff und keine Zielscheibe für giftige Kommentare, die man aus vorbeifahrenden Bussen schleudert.
Ich bin müde davon mir anhören zu müssen, wie sich Mädchen und Frauen gegenseitig heruntermachen. In einer Welt, in der ein vollständig bekleidetes Mädchen und ein oberkörperfreier Typ an der Haltestelle stehen und das Mädchen ist diejenige, die für ihre Freizügigkeit kritisiert wird, können wir all die Zustimmung brauchen, die wir abfangen können. Wenn wir fortfahren, Frauen für ihr Aussehen anzukreiden bestärken wir eine Kultur, in der Kleider zum Verhandlungsargument bei sexuellem Missbrauch werden und heranwachsende Mädchen von Selbstzweifeln zerfressen sind. Ich muss es wissen, denn ich war und bin manchmal noch eines dieser Mädchen. Wenn ihr also das nächste Mal im Bus sitzt oder an der Ampel wartet oder ein Geschäft durchstöbert und mitbekommt, dass jemand unfreundlich und ausfallend über die Kleidungswahl einer Frau (und jeder anderen Person) herzieht, seid besser als ich und sagt was. Ich wünschte ich hätte es getan.
Tragt was ihr wollt und euren Kopf hoch erhoben dabei, alles Liebe,
eure Selma ❤
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