Ich stehe vor dem Spiegel
Binder, T-Shirt, weite Hosen mit großen Taschen
das erste Mal, nun auch mit kurzen Haaren
ich stehe vor dem Spiegel und glaube mir zum ersten Mal
keine Brust zu haben, nicht weiblich gelesen zu werden
Mensch statt Frau zu sein
glücklich, nicht zufrieden, nein glücklich, wenn ich dich,
mein Spiegelbild, sehe
denn ich sehe zum ersten Mal
mich und habe Hoffnung,
dass zum ersten Mal
auch die Gesellschaft hinter den Fenstern und Türen
meiner Welt
mich sehen, mich so wahrnehmen könnte, wie ich bin
mich als Mensch zu sehen
mich nicht automatisch „sie“ zu nennen
Gender-Euphoria ist, wie einen Orgasmus haben
man weiß nicht, wie gut es sich anfühlt, bis man es zum ersten Mal tatsächlich erlebt
und trotzdem war mein erster Gedanke:
du solltest nicht so glücklich darüber sein, maskulin zu wirken
und mein zweiter, dritter Anschub
bis ich gedanklich Karussell fuhr, bis mir schlecht ist:
du tust nur so, als wärst du nicht cis
das ist nur eine Phase
probiere herum, verkleide dich, aber letztlich kommst du zu dem Schluss,
cis weiblich zu sein,
dir etwas vorgemacht zu haben,
ein Label beansprucht zu haben, das dir nicht zusteht, dass du schon in einem Jahr wieder abgelegt haben wirst, das du nur tragen willst, weil Genderqueer, die einzige Art des queer seins ist,1 die du nicht erfüllst
du willst doch nur auf so viele Arten wie möglich zu einer diskriminierten Minderheit zählen und ignorierst dabei den Schaden, den du den tatsächlich Betroffenen damit antust
ich wollte das Gefühl der Euphorie teilen
mit Menschen, die mir nahe stehen, mit dem Internet, mit irgendwem
um nicht allein zu sein
mit der Freude und mit der Angst
ausgelöst durch den Strudel der Karussellfahrt
doch das wäre einem Outing gleich gekommen
also sitze ich hier
und warte
auf den Moment wieder atmen zu können
die Verkleidung abzulegen
und mich wieder wohl mit „sie“; „Frau S.“ und „Mädels“ zu fühlen
wieder genug Selbstvertrauen in meine Erscheinung zu haben
um einfach zu schweigen
mich angesprochen fühlen, weil ich es 19 Jahre nicht anders gewohnt bin
weil mein sex ist, was mein sex ist
und ich nicht weiß, was Persönlichkeit, Energie, Vibe und was tatsächlich Gender ist
wie soll man da überhaupt einen Unterschied feststellen?
wie soll man jemals sicher genug wissen, wer man ist, um anderen eine klare Antwort zu bieten?
warum verlangt die Gesellschaft, zu wissen, was die eigentliche Verkleidung ist?
Ich stehe vor dem Spiegel
dieses mal nackt
entblößt
ohne (Ver-) Kleidung
weil eine Verkleidung auch nur Kleidung ist, die gesellschaftlich nicht in die Norm passt, die angeblich ein Geschlecht hat, aber letztlich doch nur Stoff ist, der uns hilft, uns mit uns selbst wohl zu fühlen
ich stehe also vor dem Spiegel
ohne Kleidung, als Mensch, so wie ich bin
nur dass man mich so, wie ich jetzt vor dem Spiegel stehe, als Frau bezeichnet
und nicht als Mensch.
– Aly
Warum erzähle ich euch das alles? Warum schreibe ich öffentlich darüber, wie ich dieses Erlebnis mit niemandem teile, weil ich Angst habe, nicht nur das Imposter-Syndrom zu fühlen, sondern tatsächlich nur „eine Phase“ der Selbstfindung durch zu machen?
Weil ihr mich hier tatsächlich nur als Alyrene kennt. Unter einem Namen, den man zuvor wahrscheinlich noch nie gehört hat, der zwar vermutlich eher weiblich konnotiert ist, aber weit einfacher neutral zu assoziieren ist, als der Name, der mir bei meiner Geburt gegeben wurde.
„Aly“ [a’ɭɪ] wie von „Alyrène“ [aˈɭɪʁɘn]2 verkörpert meine Identität als bloggende Person und entspricht nicht unbedingt meiner bürgerlichen Persönlichkeit. Deshalb werde ich als Aly zukünftig die Pronomen dey/denen (they/them)3 nutzen und sehen, ob es sich so gut anfühlt, wie ich im Moment vermute, um mir über mich selbst ein wenig klarer zu werden, ohne mich in meinem persönlichen Umfeld outen zu müssen. Glaubt mir, ich habe Angst. Das alles hier auszusprechen, schaffe ich nur, weil ich es praktisch niemandem erzähle. Ich schreibe nur einen Text, klicke auf einen Button und muss nur mit den Reaktionen umgehen, wenn Menschen Kommentare schreiben oder diejenigen, die mich persönlich kennen, mich darauf ansprechen. Und selbst davor habe ich Angst, weil ich nicht weiß, was das alles bewirkt. Aber wenn ich im letzten Jahr eins gelernt habe, dann, dass es keinen besseren Ort gibt, um (un-)geoutet queer zu sein, als das Internet.
Danke fürs Zuhören,
Aly
PS: Fühle mich übrigens immer noch mit dem Label „Queer“ am wohlsten, weil ich alles andere sowieso erklären müsste/würde, also kann ich auch gleich den umbrella-term der umbrella-terms nutzen. :))
1 Mir ist bewusst, dass es natürlich mehr als drei Arten gibt, queer zu sein, aber ~romantisch, ~sexuell und Gender~ sind die drei bekanntesten Übergruppen, wodurch der Gedanke einfach da ist
2 keine Garantie auf die korrekte Verwendung des IPA Systems, da ich mich nur eben etwas eingelesen habe, um zu verdeutlichen, was ich meine; außerdem werde ich wahrscheinlich meinen Künstler*innen-Namen zukünftig weiterhin ohne Akut schreiben, weil die Herkunft (das dt. Irene) nicht französisch ist, sondern ich nur die Aussprache angenehmer finde
3 Für alle, die nicht so tief in der bubble stecken wie ich, hier ein Beispiel: Aly rezensiert Bücher, denn dey liest gern. Oft wurden denen die Bücher von NetGalley zur Verfügung gestellt. Dey schreibt auch Texte und hat viele Ideen und Gedanken, die dey mit Hilfe des Blogs manchmal einfach leise in die Welt zu schreien kann. Das hilft denen mit sich und deren Welt klar zukommen. Dey würde sich freuen, wenn ihr beleidigende Kommentare für euch behalten, da solche oft nur verletzen ohne konstruktive Kritik für den Text und den Blog zu sein.
Kommentar verfassen