Blog Entry No. 12 – Den Mund voll ungesagter Dinge

Liebe Leser,

diese Review ist eigentlich nicht wirklich eine, denn dafür wird sie wahrscheinlich viel zu persönlich. Im letzten Beitrag hatte ich im Post Scriptum erwähnt, neue Bücher bekommen zu haben, nun, eines davon war Den Mund voll ungesagter Dinge und es hat mich genau dann erreicht, als ich es vielleicht am dringensten brauchte. Mein Leben fühlt sich zur Zeit an wie das Wetter heute: stürmisch und kalt, nicht direkt schlecht, aber doch so, dass man nicht raus gehen möchte. Es ist ein Chaos, mit dem ich noch nicht gelernt habe umzugehen.
Begonnen hatte alles an einem Abend vor genau einer Woche, ein Abend an dem ich mich selbst so sehr enttäuscht und im Stich gelassen habe, wie noch nie. Das schlechte Gefühl zog sich durch die ganze Woche, selbst in den fröhlichsten Momenten, in denen ich mir die Seele aus dem Leib gelacht habe, saß das Gefühl in einer dunklen Ecke meiner Gedanken und hat darauf gewartet wieder die Finger um meinen Hals zu legen. Hinzu kam eine permante Übelkeit, nicht so stark um mich hungern zu lassen, aber als hätte jemand in meine Magengrube geschlagen, nachdem ich aus dem Gedankenkarusell gefallen bin. Am Dienstagabend hatte ich in diesem Buch dann endlich den ersehnten Ausweg aus der ganzen Realität gefunden. Im Grunde war es wieder nur eine von vielen romantischen Geschichten, nur mit mehr Drama, realer, aber irgendetwas scheinen Romanzen und Dramatik an sich zu haben, das mich einfach immer und immer wieder fesselt.

Der von der deutschen Autorin Anne Freytag geschriebene und 2017 veröffentlichte Roman beschreibt in sehr vielen Facetten seiner Handlung genau das Gefühl, welches der Titel bereits ausdrückt: Es liegen einem so viele Gedanken auf der Zunge, bereit ausgesprochen und gehört zu werden, doch letztlich bleiben sie Gedanken, bis man vielleicht doch irgendwann den Mut findet, sie Realität werden zu lassen. Im Roman erlebt man aus Sophies Perspektive, wie ihr Vater beschließt kurz vor ihrem Abschluss von Hamburg nach München zu seiner Freundin, ihren Söhnen und ihrem Hund zu ziehen. Sie kam bis dahin immer ganz gut allein zurecht, doch plötzlich in einer neuen Welt, weit weg von Zuhause gefangen, lebt sie in einem großen Haus voller Leben und fühlt sich nur noch einsamer. Doch dann trifft sie Alex, das Nachbarsmädchen mit dem sie sich plötzlich nicht mehr allein, sondern glücklich fühlt. Natürlich ist die Handlung noch deutlich tiefer und komplexer, aber ich will euch nicht die Freude nehmen alle Charaktäre selbst kennenzulernen. Um das Buch in einem Satz zu beschreiben, würde ich sagen, dass es zeigt, wie viel ein einziger Kuss und ein paar ausgesprochene oder geschriebene Worte verändern können.

Die Gestaltung des Buches ist sehr modern gehalten, was mich als Liebhaber von klassischen Werken immer erst etwas irritiert (ich bin auch kein Fan von modernen Adaptionen klassischer Theaterstücke, sobald zum Beispiel Medea anfängt eine Whatsappnachricht zu schreiben oder etwas auf Facebook zu posten, würde ich immer am liebsten das Theater verlassen), da aber die Zielgruppe vermutlich etwas jünger ist als ich und dadurch ein bisschen das Gefühl entsteht, man säße neben Sophie und würde mit ihr die Konversationen lesen oder die Musik hören, kann ich ganz gut damit leben. Eine grammatikalische Besonderheit, die die Autorin aber offenbar immer so gestaltet, ist die Konstruktion „jemand schimpft jemanden“. Ich war mir immer sehr sicher, dass es „jemand schimpft mit jemandem“ heißt und auch der Duden scheint mir recht zu geben. Ich stamme jedoch aus einer Gegend, in der mit starkem Dialekt gesprochen wird und kenn mich nicht besonders gut mit anderen Dialekten in Deutschland aus, also könnte ich auch gut verstehen, wenn damit ein bestimmter Dialekt bedient werden sollte und es sich für mich nur ungewöhnlich anhört.

Den Mund voll ungesagter Dinge gehört zu der Art von Büchern, in die ich mich ohne Probleme vor der Wirklichkeit flüchten kann, in denen ich mich selbst verlieren kann. Gleichzeitig aber finde ich mich selbst und die Probleme, die mein Gedankenkarusell stetig antreiben, in so vielen Situationen, Gedanken, Problemen, Personen, Geständnissen und Ängsten der Handlung wieder, dass es mir einen Spiegel vorhält, der nicht mahnt, sondern einen nicht allein lässt. Mir wurde in der letzten Woche gesagt, ich würde sehr dramatisch schreiben. Kurz danach dachte ich über eine Situation im Buch, dass sie doch vielleicht etwas übertrieben dramatisch sei und viel einfacher aufzulösen gewesen wäre, als es getan wurde. Aber vielleicht ist genau das der Punkt des Lebens und des Schreibens: das Leben ist nun mal dramatisch und voller unerklärlicher Gefühle und Gedanken, die einem auch oft Angst einjagen können und ist es so falsch darauf dramatisch und irrational zu reagieren? Beim Schreiben kommt dann noch hinzu, dass die Dramatik einfach ein unerlässlicher Wegbegleiter ist, wenn man die Leser fesseln und ihre Augen öffnen will. In einer Welt, in der eine schlechte Nachricht die nächte jagt, reicht es nicht mehr Probleme nur anzusprechen, man muss die Menschen dazu bringen zuzuhören und nachzudenken. Wenn man genauer darüber nachdenkt, hat es auch in der Literaturgeschichte noch nie gereicht, nur zu beschreiben, alle einflussreichen Autoren ihrer Zeit nutzten Unmengen der Dramatik.

Dieser Blogbeitrag ist mit warmer Dankbarkeit an die Fotografin geschrieben. Sie ist nicht nur die Person, die mir dieses wundervolle Buch empfohlen hat, sie ist auch einer der wichtigsten Menschen und Mitwisser meines Lebens.

Ich habe diesen Blogbeitrag aus verschiedensten Gründen so viel persönlicher geschrieben, als ich es normalerweise tun würde. Texte wie dieser sind es, die mir den Anlass dazu gaben, unter einem Pseudonym zu schreiben. Die Menschen, die wissen wer hinter diesem Blog steht, kann man an einer Hand abzählen. Ich wollte persönlich werden können, ohne Angst vor persönlichen Konfrontationen oder besorgten Blicken haben zu müssen. Mir hilft das Schreiben an schweren Tagen immer dabei, irgendwie mit allem klar zu kommen und ich habe besonders in der letzten Woche, unter anderem auch durch die Geschehnisse in Den Mund voll ungesagter Dinge, gemerkt, wie wichtig es ist die eigenen Gedanken auch mal loszuwerden, sie irgendwie aufzuschreiben oder jemandem anzuvertrauen. Ich weiß, dass es viel zu vielen Menschen in dieser Welt aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gut geht. Besonders die Einsamkeit trifft viele in dieser immer dunkler werdenden Jahreszeit, in der Mitte einer Pandemie, sehr hart. Mich auch und das, obwohl ich nicht allein bin. Deshalb möchte ich euch besonders hiermit, mit einem Stückchen Ehrlichkeit, sagen, dass ihr mit dem Gefühl nicht allein seid. Das ist nur wenig Trost, ich weiß, vor allem für all diejenigen, die mit viel schlimmeren Problemen zu kämpfen haben. Mein Gedankenkarusell dreht sich um euch, um all die Probleme dieser Welt, ich wollte, dass ihr das wisst.

Ich habe viel geschrieben in den letzten Tagen. In den folgenden Zitaten werde ich euch einen kleinen Teil davon zeigen, in der Hoffnung, dass ihr euch darin wiederfindet und in der Hoffnung, dass es nicht so ist.

In Liebe,
Aly

Mir geht es gut. Objektiv. Im Vergleich mit all den Problemen die es auf der Welt gibt.
Bei mir ist nicht alles gut. Alles umfasst zu viel, um gut zu sein. Es tut mir leid Erwartungen zu enttäuschen.

~ Alyrene, 12.11.2020

Es schuf Gedanken, die ich nicht mehr los werde. Sie kreisen und kreisen, kommen hervor und tragen mich völlig mit sich oder lassen meinen Kopf leer. In einer Stille, die niemand erträgt. Eine Stille die lauter nicht sein könnte, eine Stille des absoluten Chaos. Zu viele Gedanken, um zu denken.

~ Alyrene, 13.11.2020

Eine Antwort zu „Blog Entry No. 12 – Den Mund voll ungesagter Dinge”.

  1. Wahrscheinlich einer der ehrlichsten Beiträge, die ich bisher geschrieben habe. Es jagt mir immer noch Angst ein, Menschen, die mein reales Ich kennen, diese Beiträge lesen zu lassen, aber nicht mehr so viel wie früher. Außerdem habe ich vor einigen Tagen das Buch noch einmal als Hörbuch gehört. Ich liebe es immer noch. Und auch wenn ich mittlerweile viele Aspekte deutlich, deutlich (!) kritischer sehe (Slutshaming, Bi Erasure, die ungenutzte Möglichkeit zu zeigen, dass es in Ordnung ist, jeder Zeit ‚Nein‘ oder ‚Stop‘ zu sagen, etc.), hat mir das Ende gezeigt, warum ich dieses Buch so mag. Es ist realistisch, greifbar und glaubhaft, es ist echt.

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