Blog Entry No. 2 – Corpus Delicti

Zugegeben, ich hätte das Buch wohl nie gelesen, wenn wir es nicht im Unterricht behandelt hätten, aber rückblickend war es jede Sekunde wert. Besonders in der aktuellen Krisen-Lage, ist die Thematik von höchster Präsenz und jeder sollte zumindest einmal darüber nachgedacht haben. Nutzt den Verstand, der euch gegeben wurde und bildet eure eigene Meinung!

Das Werk der Betrachtung wurde 2009 von Juli Zeh veröffentlicht. Die Autorin wurde 1974 in Bonn geboren und studierte auch in Deutschland Rechtswissenschaften. Nach weiteren Abschlüssen im juristischen Bereich und unter anderem einem Praktikum bei der UNO in New York, lebt sie nun in Brandenburg und arbeitet als Richterin im Verfassungsgericht von Brandenburg. Zudem schrieb sie mehrere Romane, einige Kurzgeschichten, Theaterstücke, Kinder- und Sachbücher und rechtswissenschaftliche Monographien. Für ihre Werke erhielt sie vielzählige Auszeichnungen, unter anderem den deutschen Bücherpreis, den Thomas-Mann-Preis und den Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik.
Corpus Delicti – Ein Prozess wurde ursprünglich als Theaterstück mit der Thematik des Mittelalters als Grundgedanken geschrieben und 2007 in Essen uraufgeführt. Obwohl es mit eben genannten Grundgedanken geschrieben wurde, handelt die beschriebene Geschichte in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts, also in der Zukunft. Obwohl Juli Zeh eine Nominierung für den Kurd-Laßwitz-Preis ablehnte, ist dieses Buch eindeutig dem Genre Science-Fiction oder Dystopie zuzuordnen und wie so viele andere Werke in diesem Genre, findet man auch in diesem die Warnung vor einem Überwachungsstaat und den Appell an den eigenen Verstand und das Mitspracherecht, von welchem man in unserer Gesellschaft Gebrauch machen kann und sollte.

Bei Corpus Delicti beginnt der weite Interpretationsraum bereits im Titel: Corpus Delicti – aus dem Latein übersetzt „Körper des Verbrechens“ und zudem eine umgangssprachliche Redewendung aus der frühen Neuzeit für einen Beweisgegenstand im juristischen Prozess. Auch der Untertitel „Ein Prozess“ ist nicht weniger interessant. Man verwendet Prozess meist in zwei Bedeutungen: der Prozess als etwas Voranschreitendes, etwas sich Entwickelndes und der Prozess im Sinne von einem Gerichtsprozess. Was also vermutet man von einem Buch, wenn man nur diese vier Wörter kennt? Man vermutet vielleicht einen juristisch komplexen Inhalt, der sehr trocken enden könnte, weil es hauptsächlich um Gerichtsverhandlungen geht. Oder aber man betrachtet Körper und Prozess eher im Fokus und fragt sich was wohl mit dem Körper, der scheinbar ein Verbrechen beging, passiert, wie er sich entwickelt. Vielleicht ist ein Körper aus Fleisch und Blut zum Beweismittel geworden und erlebt nun beide Arten der Prozess-Bedeutung. Es gibt unendlich viele verschiedene Varianten, welche Erwartungen man aus dem Titel schöpfen kann, denn den ersten Eindruck nimmt jeder anders wahr.

Wenn man das Buch dann tatsächlich aufschlägt und zu lesen beginnt, wird schnell klar, es geht tatsächlich um Gerichtsprozesse. Zu Anfang tritt man in eine scheinbar perfekte Welt ein. Die Geschichte beginnt Mitten am Tag, mitten im 21. Jahrhundert. In dieser Welt ist die Klimakrise besiegt, man weiß bei welcher Temperatur der Mensch am besten denken kann und wie man Erkältungen ausrottet. Diese Welt scheint mit sich selbst und dem Planeten in Einklang zu leben, alle scheinen ein gutes Leben zu führen. Auf die Beschreibung folgen bald die ersten Gerichtsprozesse. Man erfährt von einem Mann der sein Kind vernachlässigt hat und von der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Hauptperson Mia Holl. Ersterer erhält zwei Jahre offenen Maßregelvollzug und verschiedene Hygienische Fortbildungen, sowie einen medizinischen Vormund für seine Tochter, weil er bestimmte Untersuchungen an ihr unterließ und so bestimmte Krankheiten oder fehlerhafte Entwicklungsprozesse nicht ausgeschlossen werden konnten, es heißt er habe private Probleme und sei alleinerziehend. Ob diese Maßnahme aus heutiger, moralischer Sicht verhältnismäßig ist, lässt sich sehr gut diskutieren.
Auch Mia Holls Vergehen besteht lediglich in der Vernachlässigung von Meldepflichten, doch weil sie eine erfolgreiche Biologin mit Idealbiographie ist und keine Vorbelastungen aufweist, wird sie lediglich zu einem Klärungsgespräch eingeladen. In dieser Szene der ersten Gerichtsverhandlung lernt man auch schon die zweite wichtige Hauptfigur kennen: Heinrich Kramer. Ganz offensichtlich ist er kein offizielles Mitglied des Gerichtes und mit der Aussage: „Das Auge der vierten Gewalt schläft nie.“ erweist er sich dem Leser als Medienvertreter. Er scheint etwas mehr über bestimmte Zusammenhänge zu wissen als die Richterin Sophie selbst. Auffällig ist außerdem, dass er der Einzige zu sein scheint, der tatsächlich regelmäßig „Santé“(französisch für Gesundheit)als Begrüßung verwendet. Auch der hier noch unscheinbare Anwalt Rosentreter, sowie der Staatsanwalt Bell werden noch wichtige Rollen spielen.

In den nächsten Kapiteln lernt man zunächst Mias Nachbarinnen Lizzie, Driss und die Pollsche kennen. Sie sind unglaublich stolz darauf in einem sogenannten Wächterhaus zu leben, denn dadurch zeichnet sich besondere Zuverlässigkeit der Hygiene aus. Anfangs scheint Mia perfekt in ein solches Wächterhaus zu passen: eine erfolgreiche, systemtreue Biologin, welche die METHODE befürwortete. Ganz recht, ich schreibe diesen Satz in der Vergangenheitsform, denn wie die Interpretationen des Titels zeigten, kann man Prozess auch als einen Persönlichen verstehen und einen solchen Charakterprozess erlebt man bei Mia sehr deutlich.
Eine Schlüsselrolle bei dieser Entwicklung hat die ideale Geliebte inne. Zu Anfang könnte man noch vermuten, dass diese eine reale Person ist, denn Mia unterhält sich mit ihr und legt sich in ihre Arme als würde erstere wirklich bei ihr auf dem Sofa liegen. Doch sehr schnell wird klar, dass die ideale Geliebte nur eine Wahnvorstellung in Mias Kopf ist, die niemand außer ihr selbst sieht. Rosentreter scheint nicht einmal zu bemerken, dass Mia zeitweise nicht mit ihm, sondern mit der idealen Geliebten redet, wohingegen Kramer sofort realisiert, dass Mia mit sich selbst spricht. Im Verlauf des Buches erfährt man, dass Mia diese Wahnvorstellung von ihrem Bruder Moritz kurz vor seinem Tod geschenkt bekommen hat.

Mia Holl – Eine Person der Wirklichkeit

Maria Holl wurde ca. 1549 in Altenstadt bei Geislingen an der Steige geboren und 1593 in Nördlingen als angebliche Hexe inhaftiert. Sie wurde insgesamt 62 mal gefoltert, bekannte sich aber stets zu Gott. Viele Bürger setzten sich für sie ein und am 11. Oktober 1594 wurde sie schließlich freigesprochen. Ihre Standhaftigkeit bewirkte ein Abklingen des Hexenwahns in Nördlingen.

Von Tobi Merk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57844106

Maria-Holl-Brunnen am Nördlinger Weinmarkt

Heinrich Kramer – Ein Mann der Realität

Heinrich Kramer (um 1430-1505) war ein Dominikanermönch, mächtiger Inquisitor und einer der bedeutendsten Wegbereiter der Hexenverfolgung. Mit dem „Hexenhammer“, latinisiert Malleus Maleficarum genannt, veröffentlichte er ein Werk mit unzähligen frauenfeindlichen, umgedeuteten oder gänzlich falschen Fakten, welche der Erkennung von Hexen dienen sollte und erklärte wie mit jenen weiter zu Verfahren sei. Mit der Absegnung und Veröffentlichung Kramers Text „Hexenbulle“ erkennt die Kirche zum ersten Mal die Existenz der Hexerei an, legalisiert die Verfolgung und gibt den Inquisitoren damit ein mächtiges Instrument an die Hand.

Von Sprenger, Jakob – Verfügbar in der digitalen Bibliothek BEIC und hochgeladen in Partnerschaft., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=50373089

Malleus Maleficarum (Edition aus 1669)

An diesem Punkt wird es interessant: Mias Bruder ist tot, weil er einem Verbrechen beschuldigt und scheinbar eindeutig überführt wurde. Warum?
Moritz soll eine Vergewaltigung mit anschließendem Mord begangen haben. In einer rationalen Welt wie in der der METHODE gibt es natürlich auch eindeutige, unwiderlegbare Beweise – die DNA des Spermas stimmt mit der Seinen überein. Trotzdem bestreitet Moritz bis zu Letzt seine Schuld. Dieser Umstand macht diesen Gerichtsprozess zu einem Presseskandal, denn „kein Mörder der jüngeren Rechtsgeschichte hatte sich jemals so verhalten.“ Obwohl Mia als Biologin ebenfalls nur auf rationale Tatsachen vertraut, glaubt sie in ihrem Innern immer an Moritz‘ Unschuld und verhilft ihm schließlich mit einer Angelschnur zum Selbstmord, um dem Einfrieren durch die METHODE zu entgehen. Ein System, welches sich auf die absolute Gesundheit des Menschen stützt, kann natürlich nicht die Todesstrafe als schwerste Strafe einsetzten, weswegen Schwerverbrechern stattdessen das Einfrieren auf unbestimmte Zeit und die damit unvermeidliche Erblindung droht. Der Gedanke dahinter ist, dass diese irgendwann in einer neuen Gesellschaft mit anderen Umständen, fern von alten Kontakten aufwachen und so ein neues, besseres Leben beginnen können. Allerdings erfährt man natürlich nie wie lang die unbestimmte Zeit ist, daher ist es auch gut möglich, dass die einmal Eingefrorenen nie wieder erwachen und die METHODE somit einen legitimen Weg gefunden hätte, die Todesstrafe doch zu integrieren.
Interessant bei Moritz‘ Selbstmord ist die Tatsache, dass er sich mit einer Angelschnur aufhing. In einigen rückblendenden Kapiteln wird deutlich, dass er sehr gern in den Wald zum Angeln ging. Fern von all den Kunstblumen und Dauerdesinfektionen. Das Ende vom Fisch ist eines dieser Kapitel, in denen man erfährt wie Moritz und Mia oft zusammen im Wald waren und über ihre Grundsätze debattierten. Da Moritz ein Philosophie-Student war, sind diese Gespräche oft voller Metaphern und Vergleiche, was es meiner Meinung nach sehr interessant macht sie zu lesen. Im eben genannten Kapitel kommt es zur Thematisierung des Todes: „Um frei zu sein, darf man den Tod nicht als Gegenteil des Lebens begreifen. Oder ist das Ende einer Angelschnur das Gegenteil der Angelschnur?“ so Moritz.

So bleibt die Frage bestehen, ob Moritz tatsächlich unschuldig war und auf dem Altar der Verblendung geopfert wurde oder ob er doch nicht so friedlich und harmlos war, wie er allen glauben machen wollte. Die Beweise sprechen gegen ihn und doch weigert sich die rationalistische Biologin Mia Holl an seine Schuld zu glauben. Die Klärung dieser Frage, war einer der beeindruckendsten Szenen, die ich je gelesen habe. Aus diesem Grund werde ich auch nichts vorweg nehmen, jeder sollte dieses Buch mindestens einmal selbst gelesen haben.

Ein weiterer sehr interessanter Prozess in diesem Buch ist die Entwicklung der Beziehung zwischen Kramer und Mia, dem Inquisitor und der Hexe. Bei jedem Schritt, den Mia in ihrem Wandel von der unentschlossenen Zaunreiterin, die einfach nur ihre Ruhe haben wollte, hin zu einer erbitterten Kämpferin für die Freiheit macht, ist Kramer in der Nähe, provoziert sie dazu eine Seite zu wählen und konfrontiert sie mit gleicher rhetorischer Geschicklichkeit mit den Funktionsweisen der vergangenen und der gegenwärtigen Welt, wie sie. Am Anfang scheint Kramer deutlich überlegen zu sein, er weiß wofür er kämpft und was er erreichen will, während Mia nur versucht mit ihrem Verlust umzugehen. Doch je weiter die Geschichte fortschreitet, umso mehr wird sich auch Mia ihrer Fähigkeiten bewusst und konfrontiert Kramer immer häufiger mit eigenen Kontroversen. Vom ersten Moment an verbindet diese beiden Figuren eine tiefe Hass-Liebe, die bis zum Ende beständig anhält. Ihre erste Begegnung ist wie eine Liebe auf den ersten Blick in einer sehr langen Szene beschrieben, was die Wichtigkeit und die Enge dieser Bindung nur noch deutlicher macht.

So umfangreich wie ich den Anfang des Buches beschrieben habe, so kurz will ich das Ende halten. Natürlich gibt es noch unzählige weitere Besonderheiten und philosophische Gedankenspiele, die man in jedem kleinen Gespräch findet, doch die alle zu besprechen würde den Anreiz nehmen das Buch tatsächlich selbst zu lesen. Man kann kein Buch beurteilen, wenn man das Ende nicht kennt. Auch bei diesem Buch ist das Ende eines der Schlüsselelemente, die es in sich schlüssig und passend zu der Welt die es behandelt macht. Für mich persönlich war das Ende zuerst genau das was ich erwartet habe, bis ich dann geschockt vor den letzten Zeilen saß und mich fragte, wie man ein so gutes Buch so enden lassen kann. Aber nach einiger Zeit wurde mir bewusst, dass dieses Ende das einzige war, was dem Wesen, dem Appell und der Geschichte des Buches gerecht werden konnte. Jedes andere Ende hätte wohl die Logik des Systems zerstört. Aus diesem Grund kann ich guten Gewissens sagen, dass dieses Buch ein rundum zufriedenstellendes und zum Nachdenken anregendes Werk ist, bei dem überraschende Wendungen nicht zu kurz kamen und sehr viele sprachliche Bilder sowie philosophische Denkansätze eingebaut wurden. Jede Sekunde, die ich mit diesem Buch verbracht habe, war eine Bereichernde.

Ich hoffe ihr werdet mindestens genauso viel aus Corpus Delicti mitnehmen und vielleicht über das ein oder andere nachdenken, was angesprochen wird und auf die heutige Welt bereits angewendet werden kann.

Viel Spaß beim Lesen,
Aly

Eine Antwort zu „Blog Entry No. 2 – Corpus Delicti”.

  1. „rundum zufriedenstellend“ würde ich heute kein gutes Buch mehr bezeichnen. Wirklich gute Bücher sollten alle Emotionen berühren, einen nicht kalt lassen. Gute Bücher hasst man weil man sie so sehr liebt. Dieses Gefühl ist vieles, aber nicht zufriedenstellend.

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